Alltag im MVZ Goldbach
So ist der Alltag im Goldbacher Medizinischen Versorgungszentrum
Pillen? Klinikeinweisungen? Operationen? Nein. Worte! Sprechende Medizin! Das ist das zentrale Werkzeug, wenn es darum geht, Menschen gut zu behandeln. Medizinisch und in einem umfassenden, menschengerechten Sinne. Das wissen sie, die Ärzte und Mitarbeiter, im haus- und fachärztlichen Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) in Goldbach (Kreis Aschaffenburg), einem der großen in der Region.
»Was sagen Sie?«, fragt die alte Dame immer wieder. Die FFP-2-Maske, die Hausarzt Erich Mützel in diesen Corona-Monaten selbstverständlich trägt, wirkt wie ein Schalldämpfer. Das laute Sprechen ist anstrengend, aber notwendig. Die Patientin hört schlecht, will aber dennoch wissen, wie es um sie steht. Mützel hat keine guten Nachrichten. Sehr laut zu reden fühlt sich falsch an, wenn es um Leben und Tod geht. Mützel sucht den Augenkontakt mit der alten Frau. Er wägt ab, spricht über den weiteren Weg, nutzt Worte, die jeder verstehen kann. Er macht klar: Ich bin für sie da, auch wenn es keinen Trost gibt, weil jeder Mensch für ihn wichtig ist. Man verabredet sich für die darauffolgende Woche. Es geht weiter, irgendwie, immer. Erich Mützel ist hier der Chef, er leitet das MVZ in Goldbach. Viele seiner Patienten kennt der 66-Jährige ein Leben lang, etliche duzt er. Seit 33 Jahren ist er Hausarzt, Mützel hatte im Januar 1988 in eine Einzelpraxis übernommen.
Mützel betreut als Sportmediziner kraftstrotzende Spitzenathleten aus der regionalen Triathlonszene oder deutsche Bobfahrer aus dem Nationalteam; als überzeugter Palliativmediziner begleitet er Sterbenskranke auf den letzten Metern ihres Lebenswegs. Seit Juli 2006 gibt es das MVZ in Goldbach. 9000 Patienten (Kasse und privat) werden hier jedes Quartal betreut. Zehn Ärzte stehen auf dem Praxisschild, durchschnittlich arbeiten in Deutschland 6,2 Mediziner in einem MVZ. Die großen Volkskrankheiten prägen den Alltag, hier und anderswo: Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus (als Zuckerkrankheit im Volksmund bekannt), Krebspatienten, Rückenschmerzen, jetzt auch die Angst vor Covid-19. Gerade bei schweren Krankheiten und am Lebensende zeige sich, wie humane Medizin praktiziert wird, sind sie hier überzeugt.
Die Grundidee
Diese Diagnose geht Christiane Schirnick-Bauer nahe. Gerade hat die Fachärztin für Innere Medizin im Ultraschall bei einem Patienten eine komplexe, aber behandelbare Herzerkrankung entdeckt. Bei aller professionellen Distanz – diese Ärztin reagiert, wie ein Mensch im weißen Kittel nicht nur in einschlägigen Fernsehserien reagieren sollte: mitfühlend, verständnisvoll, erklärend.
Schirnick-Bauer bespricht sich mit einer medizinischen Fachangestellten, was jetzt alles ansteht: Welche Termine gemacht werden müssen, was der Patient jetzt an Unterstützung braucht. Und: Sie hat die Gelegenheit, mit Fach-Kollegen den Befund zu besprechen, weitere Diagnostik und Therapie zu diskutieren. Das kollegiale Gespräch ist aus ihrer Sicht denn auch eines der Hauptargumente, das für kooperative Modelle der Patientenversorgung – dazu gehört das MVZ – spricht. »Wir sind hier keine Einzelkämpfer, sondern immer in ein Team eingebunden.« 47 Mitarbeiter sind im MVZ Goldbach tätig, dazu kommen noch die Putzkräfte. Wer die Arbeit an einem Wochentag in diesem Herbst in der Praxis begleitet, hat bei aller Größe nicht das Gefühl, in einem anonymen Medizinbetrieb gelandet zu sein. Selbstverständlich, sagt Mützel, habe hier jederPatient den einen Arzt als Haus- oder Facharzt, seine Vertrauensperson. Und selbstverständlich, sagt Schirnick-Bauer, gehe es immer um den einzelnen Menschen, um seine Krankheit, um seinen Lebensweg.
Gerade die Größe des MVZ ermögliche aber, den einzelnen Patienten in einer ganzheitlichen Betrachtung optimal zu betreuen, ist Mützel überzeugt. Im MVZ könnten viele Untersuchungen direkt gemacht werden, dazu gehöre eine außergewöhnliche medizin- und labortechnische Ausstattung; Überweisungen und Klinikeinweisungen könnten reduziert werden. Mützel sieht hier übrigens ein Grundproblem der modernen, hoch spezialisierten Medizin: Durch die immer weiter vorangetriebene Differenzierung der medizinischen Fachdisziplinen werde im Alltag zu selten der Patient als Ganzes gesehen, sondern nur ein Teilproblem, ein einzelnes Symptom, eine einzelne Erkrankung, betrachtet – und bestenfalls an einer Teil-Lösung gearbeitet. Humane Medizin, sagt Mützel, bedeute aber, den Einzelnen und all seine Gebrechen als untrennbare Einheit zu begreifen – und dabei auch gerade am Lebensende in Frage zu stellen, ob Medizin alles machen muss, was sie machen kann. »Die Selbstreflektion unter Ärzten über dieses Thema kommt zu kurz«, glaubt Mützel – und will genau das mit seinem Team besser machen.
Der Kardiologe
Ralf Lyttwin ist noch ziemlich neu im Team, er stieß im Januar 2020 zum MVZ. Der erfahrene Kardiologe war zuvor gemeinsam mit Kollegen in einer Praxis in Aschaffenburg tätig, hat dort Tausende Herzpatienten betreut, viele Leben mit seinen Kollegen im Herzkatheterlabor im Krankenhaus in Alzenau-Wasserlos gerettet.
In Goldbach fühlt sich Lyttwin bestens aufgehoben. Ihm gefällt der direkte Draht zu den Hausärzten, der eine angemessene, durchgängige Behandlung noch besser ermögliche. Die Ultraschallgeräte, die im MVZ in Goldbach eingesetzt werden, »finden Sie in dieser Form in keiner Universitätsklinik«, lobt der erfahrene Mediziner die Ausstattung – von der die Patienten durch die diagnostische und therapeutische Qualität unmittelbar profitierten.
Lyttwin steht für eine Medizin, die optimale Technik nutzt – dabei aber nie aus dem Auge verliert, dass diese Technik Mittel zum Zweck ist. Herzpatienten ein lebenswertes Leben zu ermöglichen, dass zeichnet diesen Ansatz aus – und die Betroffenen wissen zu schätzen, dass sie auf dem Stand neuester Erkenntnisse und dennoch menschlich betreut werden.
Die Mitarbeiterin
Sie ist offenbar eine treue Seele: Vom ersten Tag an hat die medizinische Fachangestellte (MFA) Anja Rettinger gemeinsam mit Hausarzt Erich Mützel gearbeitet. »Die Arbeit mit den Menschen«, nennt sie als Hauptgrund, warum sie ihrem Beruf und ihrem Arbeitgeber seit 33 Jahren treu geblieben ist. Wenn sie in Urlaub sei, vermisse sie dieses Zusammenspiel in einem guten Team und den Kontakt zu den Patienten, sagt sie im Gespräch. Tatsächlich sind die medizinischen Fachangestellten, die früher mal als Arzthelferinnen bezeichnet worden sind, für viele Kranke noch wichtiger als der Arzt. Der Kontakt ist enger, die Mitarbeiterinnen sind die erste Ansprechpartnerinnen in jeder Praxis. Sie bestimmen den Ton und die Atmosphäre, den die Patienten als hilfreich (oder belastend) empfinden. Wer die Arbeit von Anja Rettinger und ihren Kolleginnen im Empfangsbereich des MVZ beobachtet, dem fällt die Zuwendung und Offenheit auf, mit der sie Praxisbesuchern begegnen. Nichts wirkt kalt-routiniert und gar genervt. Auch wiederholte Nachfragen werden geduldig beantwortet, zu jedem über den Tresen gereichten Rezept gibt es ein persönliches Wort.
Wohltuend fällt auf, dass im Empfangsbereich keine Anrufe angenommen werden. Das MVZ kann es sich dank seiner Größe erlauben, die Telefonate in einem abgeschlossenen Raum von dafür eigens zuständigen Mitarbeiterinnen annehmen zu lassen. In den Behandlungsräumen agieren die MFA ebenso freundlich-professionell. Wenn die frische Operationsnaht neu verbunden wird, geht es natürlich um Handwerk. Jedes gute Wort fördert aber die Genesung und lindert die unvermeidlichen Schmerzen – und wenn der Doktor dann dazu kommt und eine gute Wundheilung bescheinigt, verlässt die Patientin mit einem guten Gefühl die Praxis. Anja Rettinger lacht laut, wenn man sie fragt, was sich in den 33 Jahren des gemeinsamen Weges mit Hausarzt Erich Mützel verändert hat: »Alles«, antwortet sie spontan. Die ganze Art, wie Medizin gemacht werde, sei anders geworden – und das sei auch gut so, weil die Patienten von diesen Fortschritten profitieren.
Die nächste Generation
Max Mützel ist überzeugt: Medizinische Versorgungszentren sind ein Zukunftsmodell für die hausärztliche Versorgung. Der Sohn von Praxisgründer Erich Mützel ist als Juniorpartner dabei. Gerade für jüngere Ärztinnen und Ärzte, die auf flexible und familiengerechte Arbeitszeiten Wert legten, sei dieses Kooperationsmodell ideal geeignet. »Jeder hilft hier jedem aus«, sieht er wesentliche Vorzüge gegenüber dem klassischen Hausarzt-Dasein als Einzelkämpfer. Für Max Mützel war der Weg in die Hausarzt-Medizin vorgezeichnet, »ich bin mit der Praxis vom Papa groß geworden«. Die Vielfalt der Herausforderungen und der Menschen sei dafür entscheidend, dass der Beruf langfristig Spaß mache: »Hier kann ich das ganze Spektrum der Medizin bearbeiten.« Zu dieser bunten Hausarzt-Welt gehört der 95-jährige Patient, der mit MVZ-Leiter Erich Mützel plaudert. Seit 30 Jahren ist der alte Herr Diabetiker, hat ausgezeichnete Laborwerte, ist geistig rege und fit. Er steht damit beispielhaft für alles, was eine gute und am Menschen orientierte Medizin heutzutage leisten kann – im MVZ in Goldbach und anderswo.